Steigen wir mit dem Thema EM ein. Sie hätten vor 20 Jahren Europameister werden können – wenn Sie dem Spiegel nicht ein vermeintliches „Skandal-Interview“ gegeben hätten. Worin bestand damals der Skandal?
Inhaltlich war das wahrscheinlich kein Skandal. Das Problem war, dass ein aktiver Spieler öffentlich etwas über die Stimmungslage in der Nationalmannschaft gesagt hat.
War das Interview aus heutiger Sicht ein Fehler?
Nein, auf keinen Fall. Ich habe die Dinge aus dem Bauch raus so dargestellt, wie ich sie eben gesehen habe. Nach Jahren in der Nationalelf, nach 3 Weltmeisterschaften, habe ich mir damals die Frage gestellt, ob es überhaupt noch Sinn macht, zur EM zu fahren. Bin ich noch motiviert genug? Kann ich meinem eigenen Anspruch noch gerecht werden? Als Nationalspieler? Das Maximale abrufen? Ich hatte darüber nachgedacht, einen Schlussstrich zu ziehen – und verbunden mit dem Interview kam es dann auch so. Nach der WM 1994 in den USA war das auch der richtige Schritt.
Sie galten immer als selbstbewusster, in der Kommunikation sehr direkter Spieler …
Ich habe immer versucht, authentisch zu bleiben und meine Meinung zu sagen – und zwar möglichst ungefiltert. Dass ich rückblickend ab und zu mehr Diplomatie hätte walten lassen können, ist mir auch klar. Aber der eine ist so und der andere so – und Diplomatie war nie meine große Stärke.
Für die Öffentlichkeit sind Spieler Ihres Schlages natürlich spannend. Wo sind diese Spieler heute? Gibt es sie überhaupt noch?
Es gibt sie schon noch. Mats Hummels beispielsweise vertritt auch offen seine Meinung. Aber natürlich sind sie rarer geworden. Aber das ist ja auch ganz klar, die Medienlandschaft hat sich sehr stark verändert und der Druck ist nochmal größer geworden. Die Spieler arbeiten heute fast alle mit Agenturen, mit Medienberatern zusammen. Die Vereine legen auch großen Wert darauf, dass möglichst jede Aussage gegengelesen wird. Die freie Meinungsäußerung ist dann eben irgendwann mal dahin. Wenn man Interviews liest oder im Fernsehen sieht, da fällt ja auf, dass die Spieler teilweise fast das gleiche sagen. Es sieht ja fast so aus, als hätten sie alle den gleichen PR-Berater.
-
Der junge Thomas Berthold im WM-Finale 1986
Zu Ihren Anfängen in der Nationalelf: Wie war das damals, als junger Spieler auf arrivierte Stars wie Toni Schumacher, Karl-Heinz Rummenigge, Felix Magath oder Hans-Peter Briegel zu treffen?
Das war da genauso wie im Verein: Für einen jungen Spieler ist das eine Lehrzeit, in der man sich an die Hierarchie gewöhnt. Ankommen, schnuppern, wie es da so läuft, sich langsam vortasten. Die Hierarchie wurde in diesen Mannschaften wirklich gelebt. Bevor du da was sagen durftest, erst recht in einem Interview, musstest Du erstmal was vorweisen können. Und im Training ging es dann natürlich auch richtig zur Sache. Meiner Meinung nach wurde da klar härter gespielt als heute.
Als Sie 1986 zur WM fuhren, gehörten Sie altersmäßig in eine Kategorie wie heute Leroy Sané, Joshua Kimmich oder Julian Weigl. Was erwarten Sie von dem Trio in Frankreich?
Also zu den Startern werden sie bestimmt nicht gehören. Aber wenn sie im Training einen guten Eindruck hinterlassen kann ich mir schon vorstellen, dass sie je nach Spielverlauf, je nach Spielstand, die eine oder andere Einsatzzeit bekommen.

Vor der am Freitag beginnenden EM gab es viele Diskussionen um die Position des rechten Verteidigers in der DFB-Elf. Sie haben selbst rechts hinten gespielt. Warum ist das eine Problemposition?
Puh! Da hat sich in den letzten Jahre nicht viel getan. Da haben wir schon länger Probleme, auf beiden Außenverteidigerpositionen, wenn auch rechts noch etwas mehr als links. Außenverteidiger und zentrale Spitze, auf beiden Positionen kommt in Deutschland nicht viel nach. Die außen sind auch mit die anspruchsvollsten Positionen. Sehr laufintensiv, Schnelligkeit ist gefragt, Flanken, Spieleröffnung – und natürlich Verteidigung. Das ist eine ganze Menge.
Ist es richtig, einen halbfitten Bastian Schweinsteiger mitzunehmen?
Sami Khedira war ja vor der WM in Brasilien auch verletzt und ist dann mitgefahren. Sie haben ihn dann doch so hinbekommen, dass er bei dem einen oder anderen Spiel präsent war und der Mannschaft helfen konnte. Schweinsteiger hat große Erfahrung, das hilft immer bei einem Turnier, das ist unbezahlbar. Von daher finde ich es auch richtig, ihn mitzunehmen.
Was trauen Sie der deutschen Mannschaft bei der EM zu? Wo sehen Sie Probleme?
Ich glaube, dass sie ins Halbfinale kommt, das wäre ein toller Erfolg. Vom spielerischen Potenzial her sehe ich aber zum Beispiel Frankreich stärker. Was die Probleme betrifft, das hat man in der Qualifikation ja gesehen. Nach der WM haben einige aufgehört, und mit denen, die nachgerückt sind, muss erst eine Abstimmung gefunden werden. Das klappt noch nicht so.
Andere EM-Teilnehmer haben herausragende Stars, wie Schweden mit Zlatan Ibrahimovic oder David Alaba in Österreich. Sehen Sie in der DFB-Elf auch einen solch dominanten Spieler?
Wir haben die WM 2014 mit einem Kollektiv gewonnen, da gab es ja auch keinen Spieler, der so herausgeragt hat. Sicher haben wir mit Manuel Neuer den besten Torhüter der Welt, aber dennoch denke ich, dass die deutsche Mannschaft auch bei der EM wieder über das Kollektiv kommen wird.
Und was erwarten Sie von Ihrer alten Wahlheimat Italien?
Italien ist ebenfalls eine klassische Turniermannschaft, aber das ist natürlich auch generationsabhängig. Die aktuelle Nationalmannschaft sehe ich nicht so stark. Es kommt zwar was nach, der Nachwuchsbereich ist gut, aber ich glaube nicht, dass die Italiener mit dem jetzigen Team in Frankreich eine große Rolle spielen.
Zum Klubfußball. Als Sie ein junger Profi waren, wurde viel über Geld geredet. Heute werden noch ein paar Euros mehr bezahlt …
Ja das Zehnfache wahrscheinlich … (lacht)
Sandro Wagner sagte dazu letztens, dass Fußballprofis angesichts der Entbehrungen des Jobs noch zu wenig verdienen würden. Juan Mata von Manchester United äußerte sich gegenteilig, sprach von einer Traumwelt, die nichts mit dem normalen Leben zu tun habe. Wie sehen Sie das heute?
Ich würde es eher wie Juan Mata sehen. Die Sportwelt ist schon ein eigenes Ding, eine elitäre Klasse. Mit realen Leistungen hat das ja nichts mehr zu tun. Und mit dem normalen Arbeitsleben in der Wirtschaft natürlich auch nicht.
Ihre ersten gut 100 Profispiele haben Sie für Eintracht Frankfurt gemacht, Sie sind auch in der Region geboren. Wie sehen Sie heute den Verein, der gerade nur knapp die Klasse halten konnte?
Ich hab in Frankfurt seit der Jugend gespielt, sehr erfolgreich auch als deutscher A-Jugend- und B-Jugend-Meister. Das prägt natürlich. Ich wohne auch heute noch in Frankfurt, ganz klar, dass ich zu dem Verein eine besondere Verbindung habe. Bei der Eintracht kann es jetzt eigentlich nur besser werden, schlechter geht es ja kaum.
Ist Fredi Bobic als neuer Vorstand Sport der richtige Mann für die Wende?
Das hängt ja nicht nur an einer Person. Da wird es um Bobic schon ein Team brauchen, um die entsprechenden Strukturen zu schaffen und den Verein zu stabilisieren. Danach kann man dann wieder den nächsten Schritt machen. Viele Vereine, wie Frankfurt, wie auch Stuttgart, haben ein strukturelles Problem. Das fängt an mit der Kompetenz im Aufsichtsrat, geht weiter mit mangelhaften Konzepten im Scouting-Bereich, das Fehlen einer durchgehenden Spielphilosophie von der Jugend bis zur ersten Mannschaft. Nochmal Stuttgart: Es ist ja nicht nur die Erste abgestiegen, sondern auch die Zweite. Frankfurt hat die 2. Mannschaft abgemeldet. Es fehlt ein fußballerisches Konzept, es fehlt ein Weg in die Zukunft. Das sind beides Klubs mit großer Tradition und Geschichte, aber die Bundesliga-Tabelle nimmt darauf keine Rücksicht. Die großen Töpfe sind in der Bundesliga ja verteilt, da brauchen wir uns nichts vorzumachen. Bayern München ist der Marktführer. Dann gibt es Vereine wie Dortmund, die auch viel Substanz in der Mannschaft haben, dann Gladbach, Leverkusen, Schalke, alle mit Europa-Ansprüchen. Dazu kommen Vereine mit großen Konzernen im Rücken, VW in Wolfsburg, Red Bull in Leipzig. Die Plätze sind also hart umkämpft. Wenn dann diese Klubs in der Champions League spielen erwirtschaften sie Einnahmen, die für die Teams dahinter gar nicht mehr aufzuholen sind. Die Attraktivität der Bundesliga leidet. Es gibt ja nichts Langweiligeres, als wenn eine Mannschaft vorne weg spielt und 15 oder 20 Punkte Vorsprung hat. Das gilt es zukünftig zu vermeiden.
Aus Frankfurt gingen Sie nach Verona in die damals stärkste Liga der Welt …
Genau, das war damals die beste Liga, so wie heute Spanien, die jetzt seit 10 Jahren die stärkste in Europa ist. Der Wechsel hat mir viel gebracht, auch für die Nationalmannschaft. Es war insgesamt eine tolle Zeit. Italien hatte nicht die generellen wirtschaftlichen Probleme, wie es aktuell der Fall ist. Die Stadien waren voll, zur WM wurden noch neue Stadien gebaut, die Infrastruktur war sehr gut. Die besten Spieler der Welt waren da, obwohl es damals natürlich nur 2 Ausländerplätze pro Mannschaft gab. Jeder Spieler, ob heute oder damals, sollte die Chance nutzen, in der stärksten Liga der Welt zu spielen. Für die persönliche und sportliche Entwicklung ist das wertvoll. Man lernt nebenbei noch eine andere Sprache, lernt Dinge, die man hier in Deutschland eben nicht erlebt. Für jeden Menschen ist ein Auslandsaufenthalt empfehlenswert.
Also sollte vielleicht der eine oder andere Nationalspieler, der jetzt noch in der Bundesliga spielt, ins Ausland wechseln?
Ja, ich denke schon. Der Druck ist dort ja auch viel größer. In Italien war das ganz extrem. Von den ausländischen Spielern wurde immer klar mehr erwartet als von den einheimischen. Das hat man auch im Umgang mit der Presse gemerkt.
Über Rom und einen Abstecher zum FC Bayern ging es für Sie nach Stuttgart, wo Sie letztlich ihre meisten Profispiele absolvierten. Gerade ist der VfB abgestiegen – wie konnte das passieren?
Ich glaube, dass sich die Mannschaft aufgrund des guten Starts in die Rückrunde zu sicher gefühlt hat. So nach dem Motto: Wir sind ja eigentlich schon gerettet! Und dann konnten sie eben den Schalter nicht mehr umlegen. Das ist auch eine Frage der Mentalität in der Mannschaft. Da gab es ja schon ein paar Fälle in der Bundesliga-Historie, wo Vereine total abgesackt sind.
Wie sieht Ihre Zukunftsprognose für den Klub aus?
Am 5. August geht die Zweitliga-Saison los, Ende Juni das Training. Da muss jetzt schnellstens geschaut werden, wen man halten kann, wen man abgeben muss, was generell auf dem Transfermarkt passiert. Es gibt auch ein paar vakante Positionen im Verein: Präsident, Sportvorstand, eventuell Aufsichtsrat. Da existieren so viele Baustellen, die müssen dringend abgearbeitet werden. Die Mannschaft, wie immer sie aussieht, wird sich auch auf die Liga einstellen müssen. Da wird rustikaler gespielt. Dem muss man sich erstmal stellen.