Bernd Heynemann gehörte in seiner aktiven Zeit zu den besten Schiedsrichtern in Deutschland. Von 1991 bis 2001 pfiff der gebürtige Magdeburger 151 Spiele in der Fußball-Bundesliga. Auch international kam er in Länderspielen (14) und Europapokal-Partien (42) zum Einsatz. Aufgrund seiner guten Leistungen durfte er bei der EM 1996 und der WM 1998 insgesamt 3 Spiele leiten. Noch heute tritt der mittlerweile 64-Jährige im TV als Experte auf. Im exklusiven bwin Interview kritisiert Heynemann die fehlende Umsetzung einiger Fußball-Regeln und den Umgang mit dem VAR, spricht über mögliche Regeländerungen und sagt, wie er mit der Theatralik von Neymar umgehen würde.
Die Schiedsrichter müssen mit jeder der vielen Fußball-Regeln vertraut sein. Welche Regel ist für einen Schiedsrichter am schwierigsten anzuwenden?
Wenn wir uns die aktuelle Situation von der Kreisliga bis zur Nationalelf anschauen, dann ist die große Frage: Was ist Handspiel? Anders als bei einem Foul ist bei einem Handspiel keine Schablone draufzulegen. Von der Definition ist es zwar klar geregelt, aber die Anwendung in der Realität ist der Knackpunkt.
Dabei gab es Handspiel aber auch schon immer.
Ja, aber die Definition hat sich geändert. Früher hieß es, wenn die Hand zum Ball geht, dann ist es strafbar. Heute gibt es Körperflächenvergrößerung, war die Schussdistanz zu nah und kein Ausweichen möglich, wurde der Ball vom eigenen oder von einem anderen Körper umgeleitet – das alles ist eine ganz schwierige Geschichte.
Welche ist Ihrer Meinung nach die absurdeste Regel?
Absurd ist für mich der Umgang mit der Videoassistenz. Ein Beispiel: Eine Flanke fliegt in den Strafraum, der Mittelstürmer steht im Abseits, der Ball wird nach Außen abgewehrt und direkt wieder vor das Tor geschlagen. Jetzt steht der Stürmer nicht mehr im Abseits und markiert den Treffer – eine neue Spielsituation und damit ein korrektes Tor.
Bei der Videosituation gehen wir aktuell aber 4, 5 oder 6 Spielzüge zurück und werten im Nachhinein eine Szene. Es gab ja schon ein paar Spiele, wo im Strafraum ein Foul war, der Schiedsrichter die Partie aber laufen lässt. Dann passiert direkt im Anschluss ein Foul auf der Gegenseite und der Referee pfeift. Jetzt greift allerdings der Videoassistent ein und ahndet das vorherige Foulspiel, das bereits zig Sekunden zurückliegt. Das Absurde: Beim Abseits heißt es neue Spielsituation und wir lassen es laufen und hier drehen wir – wie Marcel Reif einmal sagte – den Film bis zur Winterpause zurück. Das passt nicht.
Apropos Videoassistent: Sind Sie ein Freund oder ein Gegner des VAR?
Ich bin aufgeschlossen, aber Freund kann man nicht unbedingt sagen. Es muss sich halt alles einspielen, weil es komplett neu ist. Es hieß immer in der Anwendung: Eingreifen bei einer klaren Fehlentscheidung. Diese klare Fehlentscheidung wurde definiert mit der „Hand Gottes“ von Diego Maradona bei der WM 1986. Aber es kann doch nicht sein, dass mittlerweile bei jedem Zweikampf im Strafraum der Videokeller eingreift und kontrolliert, ob ein Foulspiel vorliegt. Dann wird nach der 2. oder 3. Zeitlupe festgestellt, dass der Spieler am Schnürsenkel berührt wurde. Das ist doch keine klare Fehlentscheidung und bedarf keines Videobeweises.
Einen Zweikampf kann ich immer in 2 Richtungen werten: Foul oder nicht. Einen Mittelweg gibt es nicht. Wann greifen wir ein und wann nicht? Und das ist die große Krux. Das ist nicht klar geregelt und hat sich noch überhaupt nicht eingespielt. Ich bin dafür, dass der Trainer – wie in anderen Sportarten – 2 Mal die Möglichkeit hat Einspruch einzulegen und eine Szene vom Videoassistenten überprüfen lassen kann. Ähnlich wie beim Skat. Sind die 2 Sequenzen genutzt worden, gibt es keine weitere Möglichkeit.
Aktuell sorgt der Videobeweis oftmals für mehr Probleme als für Lösungen.
Ja, leider. Ich habe bereits vor der Einführung gesagt, dass es nicht passieren darf, dass der Schiedsrichter auf dem Feld nur noch eine Marionette und vom Videobeweis abhängig ist. Man hat aber oft den Eindruck, dass es mittlerweile so gekommen ist. Deshalb bleibe ich ein kritischer Begleiter dieser neuen Praxis.
Jemand, der Dank des Videobeweises und der Fernsehkameras bereits des Öfteren der Schauspielerei entlarvt wurde, ist Neymar – speziell bei der letzten WM. Gab es zu ihrer aktiven Zeit auch Spieler mit einer derartigen Fallsucht?
Es gab schon vor 20 oder 30 Jahren Spieler, die sehr schnell zu Boden gingen. Damals hieß es immer: Die Südländer fallen sehr leicht. Das hat sich aber nach der WM 1994 gegeben. 1998 in Frankreich, wo ich selbst mit dabei war, gab es keine Fallsucht mehr. Dieses Jahr in Russland war es allerdings wieder extrem, vor allem bei Neymar. Wenn ich vom Reporter schon höre: „Er hat den Körperkontakt dankend angenommen …“ – bei dieser Formulierung schaue ich als ehemaliger Schiedsrichter noch genauer hin. War dieser Kontakt dann wirklich die Ursache, das der Spieler so spektakulär fällt? Oftmals nicht!
Wie würden sie heutzutage mit der Theatralik eines solchen Akteurs umgehen?
Neymar würde ich heute direkt nach dem ersten Faller zu verstehen geben, dass er beim nächsten Mal sofort die Gelbe Karte bekommt. Da kommt es auf die Körpersprache des Schiedsrichters an, dann versteht es der Spieler auch. Das muss und darf man sich nicht bieten lassen.
Also müssen die Schiedsrichter gegenüber Neymar mehr Courage zeigen und durchgreifen?
Das gilt ja nicht nur für Neymar. Generell gehören Schauspieleinlagen auf dem Platz bestraft – egal von welchem Spieler. Da darf es auch nicht interessieren, ob ein sogenannter Weltstar oder ein No-Name-Akteur vor einem steht. Auf dem Spielfeld sind alle Akteure gleich zu behandeln. Da darf es bei einer WM (alle WM Wetten) auch keine Rolle spielen, ob ein Schiedsrichter in seiner nationalen Liga nicht den Umgang mit großen und bekannten Spielern gewohnt ist.
Gibt es eigentlich Regeln, die Schiedsrichter nicht umsetzen? Mir fällt da vor allem das Fordern von Gelben Karten ein, das ja eigentlich selbst mit einer Verwarnung geahndet werden soll.
Das Regelwerk ist so umfassend, dass eigentlich jedes Szenario abgedeckt ist. Aber es wird nicht immer umgesetzt. Das Fordern mit der Gelben Karten ist dafür ein gutes Beispiel. Gleiches gilt für das Fordern des Videobeweises, wenn ein Spieler mit seinen Händen einen imaginären TV-Bildschirm formt – laut Regelwerk muss beides mit einer Gelben Karte bestraft werden. Wird es aber so gut wie nie.
Was ich in den letzten Jahren allerdings sehr nervig finde, ist die Strafstoß-Ausführung. Wenn ein Schütze zum Elfmeter anläuft, laufen neben ihm bereits weitere Spieler mit in den Strafraum. Das ist ein ganz klarer Regelverstoß und ist im Regelwerk auch eindeutig formuliert. Trotzdem wird es nicht geahndet.
Am ersten Spieltag im Auftaktspiel Bayern gegen Hoffenheim musste ein Elfmeter aufgrund dessen wiederholt werden.
Korrekt, aber der Einwand kam nicht vom Schiedsrichter selbst, sondern durch den Videoassistenten. Das kann es doch nicht sein. Der Schiedsrichter sieht es doch – alle sehen das. Normalerweise müsste in der Bundesliga (alle Bundesliga Wetten) deshalb fast jeder Elfmeter wiederholt werden. Aber diese Regel wird konsequent nicht umgesetzt. Das prangere ich schon seit Jahren an.
Gibt es Regeln, die sie abschaffen oder ändern würden?
Ja, die gibt es. Wir haben mit dem Rückpass zum Torwart ja eine kleine Revolution gehabt. Früher durfte der Keeper den Ball vom Mitspieler noch mit den Händen aufnehmen. Heutzutage ist ihm das nur noch erlaubt, wenn der Mitspieler den Ball mit einem Körperteil oberhalb des Knies (Kopf, Brust, Bauch, Oberschenkel) zurückspielt.
Mein Vorschlag: Gar kein Rückpass zum Torwart, wenn sich dieser innerhalb des Strafraums befindet – genau wie im Handball. Das heißt, dass ich einen Pass zum Torwart lediglich in Richtung der Eckfahnen spielen könnte oder nur so kurz, dass er nicht in den Strafraum rollt. Dann müsste der Keeper sein Tor verlassen, um den Ball zu klären. Damit würde das Spiel unkontrollierbarer und schneller werden und ein Rückpass wäre mit viel mehr Risiko verbunden. Es kämen mit Sicherheit ganz interessante Spielszenen zustande. Das würde den Angriffsfußball beleben.
Kommen wir auf Ihre eigene Karriere zu sprechen. Was war der Höhepunkt Ihrer Laufbahn?
Für mich als Ossi war der Sprung in die Bundesliga das Größte. Früher hab ich die Spiele nur im Fernsehen gesehen, auf einmal war ich mittendrin statt nur dabei. Das es dann so gut geklappt hat und es am Ende 151 Spiele geworden sind, ist für mich persönlich ein ganz großer Erfolg.
Also gibt es kein einzelnes Spiel, was Sie besonders hervorheben?
Also die beiden Spiele bei der Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich waren schon Highlights. Es ist nicht selbstverständlich, dass man bei einer WM auch 2 Mal zum Einsatz kommt. Leider kam Deutschland dann weiter, also musste ich nach Hause (lacht).
Gab es in Ihrer Karriere Spieler, mit denen Sie auf dem Platz gut bzw. schlecht zurechtkamen?
Ich war als Schiedsrichter sehr kommunikativ. Wenn man dann in den Gesprächen mit den Spielern Verständnis aufbrachte, dann kam man mit jedem Akteur gut klar. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es auch heraus. Das war meine Maxime, um die Spieler anzusprechen. Ich wollte nicht das Gefühl vermitteln Richter zu sein, sondern Spielbegleiter. Auch deshalb hab ich heute noch guten Kontakt zu Thomas Helmer – nicht nur, weil wir des Öfteren im Doppelpass (TV-Sendung) zusammenarbeiten.
Hatten Sie als Schiedsrichter ein Lieblingsstadion oder einen Lieblingsplatz, wo sie gerne gepfiffen haben?
Jedes Stadion, das ausverkauft war.
Da waren Sie in Ihrer aktiven Zeit (1991-2001) ja genau am richtigen Ort und erlebten den Zuschauer-Aufschwung der Bundesliga hautnah mit.
Damals war noch nicht wie heute jedes Stadion an einem Spieltag voll ausgelastet. Die Zeit der immer volleren Arenen fing langsam an. Ich musste einmal an einem Mittwochabend in Mailand eine Partie leiten und war dann am Wochenende in München im Einsatz. Beim Warmmachen sagte ich zu meinem Kollegen: Mensch, das sieht hier alles so komisch aus. Er lachte nur und meinte, man könne ein ausverkauftes San Siro nicht mit dem Olympiastadion in München vergleichen. Es ist ein komplett anderes Feeling, wenn eine Laufbahn dazwischen ist. Aber ein volles Stadion ist sowohl für die Spieler als auch für den Schiedsrichter der größte Spaß.
Zum Abschluss: Gibt es einen Rat, den Sie jungen Schiedsrichtern mit auf den Weg geben können? Gerade in Zeiten, in denen die Kritik immer größer wird und es in den unterklassigen Ligen sogar zu Gewalt gegenüber Spielleitern kommt?
Man sollte sich zu Beginn nicht zu hohe Ziele setzen. Wer von Anfang an nur das Ziel Bundesliga hat, der ist fehl am Platz. Man muss mit den Ligen und seinen Anforderungen wachsen. Immer am Ball bleiben, auch wenn es Rückschläge – egal, ob von Seiten der Schiedsrichter-Beobachter, der Spieler oder der Zuschauer. Die Routine kommt mit den Spielleitungen.
Ich war gerne Schiedsrichter, ich habe gerne schnell und richtig entschieden. Darauf kommt es an. Dann kommt man auch voran. Es wird immer Kritik geben, denn als Schiedsrichter kann man es in den seltensten Fällen jedem Recht machen. Aber das ist gerade das Spannende. Entscheidungen schnell und möglichst richtig zu treffen – das ist mit einem Fußballer vergleichbar. Wer zulange zögert, der verpasst die Chance bzw. den Pfiff.
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