Was war das für ein Jubel am letzten Spieltag der vergangenen Saison? Auf dem Rasen des Hamburger Volksparkstadions spielten sich nach dem 2:1 gegen den VfL Wolfsburg im direkten Duell gegen die Relegation Szenen wie bei einer Meisterschaftsfeier ab. Der Hamburger SV ist und bleibt ,,unabsteigbar“. Er bleibt aber auch definitiv kein Verein für Herzpatienten. Trotz aller Ankündigungen für einen Neuanfang: Skepsis, Unruhe und Abstiegskampf werden den HSV auch in der neuen Saison begleiten.
Für HSV-Vorstandsboss Heribert Bruchhagen gab es in den letzten Wochen keinen Grund, Entwarnung zu geben. Der 68-jährige Managerfuchs rechnet beim Hamburger SV mit dem vertrauten Saisonverlauf und der heißt „Abstiegskampf“. Bruchhagen: „10 Mannschaften werden darum kämpfen, dass sie am Ende nicht auf den Plätzen 16, 17 und 18 stehen. Der HSV gehört dazu.“
Keine wirklich gute Prognose. Doch Bruchhagens Bedenken sind berechtigt. Auf dem Transfermarkt tat sich der HSV schwer. Die Zurückhaltung war auch der nach wie vor angespannten finanziellen Situation beim Bundesliga-Dino geschuldet. Investor Klaus-Michael Kühne forderte eine Reduzierung des Spieler-Etats von 55 auf 48 Mio. €. Der Logistik-Milliardär hatte im Frühjahr zudem Anteile verkauft, um dem HSV überhaupt die Lizenz für die 55. Saison in Folge in der Bundesliga zu sichern. Mit René Adler konnte man nur einen der Top-Verdiener abgeben. Aber: Der HSV-Kader ist nach wie vor teuer und qualitativ in jedem Fall noch ausbaufähig. „Die Mannschaft ist nur bedingt erstligatauglich“, trübt HSV-Experte Axel Hesse (SPORT BILD) die Hoffnungen der leidgeprüften Fans auf eine Wende.
Immerhin: Die Erfahrungen im Abstiegskampf in 3 der letzten 4 Spielzeiten haben Spieler, Fans und Verantwortliche beim HSV eng zusammenrücken lassen. „Diesen Zusammenhalt müssen wir weiter stärken“, fordert HSV-Sportchef Jens Todt, „wir wollen bescheiden sein, jede Form von Normalität tut uns gut.“ Neben der Nervenstärke und der Erfahrung im Abstiegskampf spricht auch die Fitness für die Hamburger. Coach Markus Gisdol hat das Team konditionell stärker gemacht. Viele Spiele, auch der Relegations-Krimi gegen Wolfsburg, wurden in der absoluten Schlussphase gewonnen. „Wir waren in der letzten Saison eine der fittesten Mannschaften, da wollen wir wieder hinkommen“, sagt Gisdol, der mit dem HSV „eigentlich eine ganz andere Geschichte schreiben“ will als den erneuten Abstiegskampf. Das 2. Jahr in Hamburg wird für den Schwaben auf jeden Fall zur erneuten Bewährungsprobe.
Die Top-11
U21-Europameister Julian Pollersbeck und Christian Mathenia liefern sich im Rennen um die Nummer 1 einen Konkurrenzkampf. Für Pollersbeck sprechen sein großes Selbstvertrauen und seine Qualitäten als Elfmeterkiller. Matenia war letzte Saison im Abstiegskampf ein Rückhalt und wird auch zunächst als Nummer 1 in die Saison gehen. Die bessere Perspektive hat jedoch Pollersbeck.
In der Abwehr ist die Viererkette mit Kapitän Gotoku Sakai, Mergim Mavraj mit dem nun fest verpflichteten Kyriakos Papadopoulos stabiler. Rick van Drongelen, 18-jährige Innenverteidiger-Hoffnung aus Rotterdam, erhöht den Druck auf die beiden Routiniers in der zentralen Verteidigung. Douglas Santos ist auf der linken Seite gesetzt.
Im Mittelfeld hat der HSV fast traditionell seine Schwachstelle. Ekdal plagt sich mit Rückenproblemen. Walace muss in seinem 2. Jahr beim HSV auf der zweiten Sechserposition liefern. 5 Tore und 7 Assists aus der letzten Saison machen den abwanderungswilligen Nicolai Müller auf der linken offensiven Mittelfeldseite ebenso ein Stück weit unentbehrlich wie Rekord-Zugang Filip Kostic auf der rechten Seite. In der zentralen Mittelfeldposition soll Neuzugang Hahn mehr Tempo und mehr spielerische Impulse rein bringen. Doch hinter dem Ex-Gladbacher, im letzten Jahr nur 18-mal in der Startelf der Borussia, steht ein großes Fragezeichen.
Im Angriff ist Hamburg zu abhängig von Top-Torjäger Bobby Wood (5 Treffer und 2 Assists in der letzten Saison). Dass man den US-Amerikaner bis 2021 vertraglich binden konnte, war ein wichtiges Signal. Neben Wood können aber auch Hahn, Luca Waldschmidt oder der in der letzten Saison wenig treffsichere Pierre-Michel Lasogga in der zentralen Stürmerrolle den Einzelkämpfer geben.
Transfers
Für die Verpflichtung von Leihgabe Papadopoulos waren allein 6,5 Mio. € fällig. Die Dienste von André Hahn ließen sich die Hamburger 6 Mio. € kosten. Dazu kamen Pollersbeck und van Drongelen für insgesamt 6,5 Mio. €. An einem dicken Transfer-Minus kamen die Hamburger dennoch nicht vorbei. Torwartlegende René Adler ging ebenso ablösefrei wie Linksverteidiger Matthias Ostrzolek (Hannover). Lediglich der Verkauf von Michael Gregoritsch an den FC Augsburg brachte 5,5 Mio. €. Schlagzeilen machte die gescheiterte Vertragsverlängerung mit Nicolai Müller. Der Flügelspieler wird den HSV spätestens im nächsten Sommer verlassen.
Budget
Der finanzielle Handlungsspielraum der Hamburger ist traditionell eng gesteckt. Das vom omnipräsenten Investor Kühne zur Verfügung gestellte Transfer-Budget von 20 Mio. € ist bereits vor dem Saisonstart komplett ausgeschöpft.
Saisonziel
„Legt man allein die Tabelle zugrunde, wäre ein Platz im gesicherten Mittelfeld zwischen Rang 8 und 12 ein riesiger Schritt für uns“, formulierte HSV-Trainer Markus Gisdol in dieser Woche seine Ziele. Das ist mutig. Dafür braucht es Konstanz, mehr Power und mehr spielerische Impulse. Doch die müden Testspiele lassen zumindest bis zum ersten Pflichtspiel, dem Pokalmatch beim unangenehm zu spielenden VfL Osnabrück, kaum Aufschlüsse zu.
Einschätzung
Für den Hamburger SV wird es auch im neuen Jahr schwer werden, seine Kritiker verstummen zu lassen. Das HSV-Bashing – ein Trend in den sozialen Netzwerken – wird so schnell nicht außer Mode kommen. Die Mannschaft kann nur über den Kollektivgedanken und unter Vermeidung eines sportlichen Fehlstarts eine Trendwende einleiten. Realistisch gesehen spielt der HSV – bei Baustellen in fast allen Mannschaftsteilen – maximal um Platz 12 bis 15.
Mögliche Probleme
Der HSV-Kader ist in der Tiefe zu schwach besetzt. So verfügt man beispielsweise auf der linken Außenverteidigerposition mit Douglas Santos nur über einen einzigen gestandenen Spieler. Viele Schwachstellen aus den letzten Jahren sind durch das schmale Transferbudget nicht zu beheben. Spielerische Qualität wird Mangelware bleiben. Größtes Problem ist jedoch das traditionell hektische Umfeld in der Medienstadt Hamburg. Verpatzt der HSV in Osnabrück im DFB-Pokal und in der Liga zu Hause gegen Augsburg den Start, dürften die Kritiker schneller auf den Plan gerufen werden, als es den um Ruhe bemühten Verantwortlichen um Gisdol und Todt lieb ist…
